Loveparade 2010 in Duisburg

Die Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg hat die ganze Region erschüttert. Während im Radio aber schon nachgedacht wird, wie sich dieses Ereignis auf den Ruf der Region auswirken könnte, hat das Drama für viele Menschen grade erst begonnen. Aus traumatherapeutischer Sicht wirkt diese Katastrophe wie ein Stein, der in einen stillen See geworfen wird. Es gehen Wellen der Aktivierung und Betroffenheit davon aus. Da sind zunächst die Angehörigen der Toten und ihre Freunde und Kollegen. Dutzende Menschen erleben, dass ein Mensch, der ihnen wichtig war, plötzlich dem Leben entrissen wurde und sind selbst in Schock und Trauer gefangen. Dazu kommen die Hunderte von jungen Menschen, die verletzt wurden, aber mit dem Leben davongekommen sind. Anfangs ist der Schock oft noch wie eine Betäubung, und erst nach und nach wird sich die Betroffenheit wirklich zeigen und spürbar. Die Erschütterung der Seele mag sich erst im nachhinein voll entfalten, wenn Betroffene auch im Gefühl realisieren, welchem Schicksal sie entkommen sind, und diese Erschütterung kann schwerer wiegen als die körperlichen Verletzungen, wenn nicht angemessen mit ihnen umgegangen wird. Aber auch die Tausenden von Menschen, die schon eine Stunde vor der Massenpanik lebensbedrohliche Zustände erlebt haben, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte, können Opfer sein von Ängsten, Wutattacken, Ohnmachtsgefühlen oder Gefühlsabschaltung. Diese Zustände können sogar überspringen auf Eltern, Freunde und andere nahestehende Menschen, denn wir sind miteinander verbunden. Das heißt, viele tausend Menschen sind durch das Geschehende so erschüttert, dass sie gut darauf achten müssen, wie sie mit sich und ihren Gefühlen umgehen und zurechtkommen. 

Lesen Sie dazu bitte die Seite über Akuttrauma und Krise, die Einführung und die Seite über Symptome. Der Schock braucht "Reparatur". Dafür braucht es Zeit, ein gewisses Maß an Rückzug und Erholung und die innere Beschäftigung mit den Reaktionen und Gefühlen. Sehr hilfreich und wichtig kann es sein, gemeinsam mit anderen zu trauern und seinen Protest zu bekunden, wie das jetzt überall im Ruhrgebiet geschieht. Suchen Sie das Gespräch mit Menschen, denen sie vertrauen, und die genügend gefestigt und stabil sind, Ihnen Unterstützung zu geben. Manchmal braucht es nur ein offenes Ohr. Obwohl Rückzug eine wichtige erste Hilfe sein kann, wenn das Ihr Bedürfnis ist, sollten Sie nicht damit alleine bleiben. Verdrängung von Gefühlen und Reaktionen kann eine erste Notfallmaßnahme sein, führt aber auf Dauer in die Chronifizierung und die Gefahr, dass diese Gefühle irgendwann später im Leben wieder aufbrechen. Sie sollten daher nicht auf Dauer akzeptieren, dass Ängste, Wut oder Ohnmacht die Kontrolle über Ihr Leben gewinnen. 

Wenn Sie jemanden verloren haben, werden Trauer und Schmerz alle anderen Gefühle überwiegen, oder die Gefühle schalten für eine Zeitlang ab und Sie fühlen sich unfähig zu trauern, das geschehene zu begreifen. Nichts kann rückgängig machen, was geschehen ist. Trauer, Schmerz und irgendwann vielleicht Abschied brauchen viel Zeit und Verständnis. Niemand kann sagen oder vorschreiben, wie viel Zeit nötig oder angemessen ist. Familie und Freunde sind vielleicht selbst betroffen und überfordert, oft geht die Geduld der Umgebung nach einem Jahr allmählich aus. Deshalb können örtliche Trauergruppen oder Trauerberater hilfreich und wichtig werden. Als sehr einfühlsam und unterstützend hat sich die Arbeit z.B. von Jorgos Canacacis erwiesen, der regional Seminare und Gruppen leitet: Akademie für menschliche Begleitung 

Aber über den großen Kreis direkt betroffener Menschen hinaus können auch viele Menschen innere Aktivierung erleben, deren "Alarmzentrum" hier die Wiederkehr früherer  traumatischer Erfahrungen erlebt. Das geschieht, auch ohne Beteiligung des Bewusstseins, über sogenannte Affektbrücken. Das sind Ähnlichkeiten, die vom Bewusstsein vielleicht gar nicht bemerkt werden, aber vom Unterbewusstsein. Damit kommen dann auch die eigenen unverarbeiteten Gefühle wieder hoch: Ängste bis hin zur Panik, Schlafstörungen, intensive  Träume, Überforderungsgefühle, ohnmächtige Wut und vieles mehr können so ausgelöst werden. Im Idealfall suchen Sie sich kompetente Hilfe zur Aufarbeitung der alten Lasten. Aber eine gute erste Hilfe kann alles sein, was Ihnen gut tut und Unterstützung gibt. Vor allem ist es wichtig zu erkennen, dass hier die Gegenwart sich mischt mit belasteter Vergangenheit, und das eine vom anderen im Verstand und im Gefühl wieder zu trennen. Das Hier und Jetzt mag dem Dort und Damals vom Gefühl her gleichen, aber es sind ganz verschiedene Ereignisse. Für dieses Ordnen brauchen Sie vielleicht Hilfe. 

Um zu helfen, die auftretenden Reaktionen zu verstehen und zu ordnen, hier eine unvollständige Liste von Themen, die durch die Ereignisse bei der Loveparade aktiviert werden können. Nutzen Sie diese Liste auf keinen Fall, um sich besser an Ihre Belastungen zu erinnern. Sorgen Sie dafür, dass keine Bilder die untenstehenden Schilderungen begleiten - nur Worte. Nehmen Sie sie nur als Überschriften, die Ihnen helfen zu verstehen, was in Menschen geschehen kann. 

- Überwältigung, Kontrollverlust und Ohnmacht. Diese Erfahrung, die im Zentrum aller traumatischen Belastungen steht, wird im Ausgeliefertsein an das Gedränge geradezu sichtbar. Wenn Sie dabei waren oder sogar wenn Sie nur Videos gesehen haben, können eigene, ganz anders gelagerte Ohnmachtserfahrungen auftauchen, nicht unbedingt in Form von Erinnerungen und Bildern, sondern vielleicht nur in Form diffuser Emotionen, Körperreaktionen oder ungewöhnlicher Verhaltensweisen und Bedürfnissen.

- Gedränge und Enge. Bei jedem Volksfest, bei jeder Musikveranstaltung, bei Fußballspielen kann es zu Situationen kommen, die den Körper in Angst versetzen, weil er spürt, dass er sich der Kräfte um ihn herum nicht mehr sicher erwehren kann, besonders gilt das für Kinder oder Menschen, die klein sind und nicht über die Menge hinweg zum Ausgang sehen können oder die körperlich nicht so kräftig gebaut sind. 
- Geschoben und gezwungen werden, keine Wahl haben. Gehört zur Erfahrung jedes Kindes dazu, wenn auch die meisten nicht dadurch traumatisiert werden. 

- Dunkelheit und eingesperrt sein. Viele Menschen kennen noch die Bestrafung, in den dunklen Keller eingesperrt zu werden. Das hinterlässt meist nachhaltige Folgen. Aber auch als Baby in der Nacht alleingelassen zu liegen und zu schreien, ohne dass jemand reagiert kann Todespanik im Seelenleben verankern. Auch Nächte im Luftschutzbunker oder sogar die Angst der Eltern vor Dunkelheit können hier angesprochen werden. 

- Atemnot. Enge und Sauerstoffarmut sind schon bei der Geburt eine häufige Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod, die der Körper auch noch genau erinnert. Aber im Leben gibt es viele Möglichkeiten, solche Erfahrungen zu machen: sei es durch Wasser in der Badewanne oder im See, sei es durch Einklemmungen bei Unfällen oder durch bewusst zugefügte Gewalt durch ältere Kinder oder Erwachsene. 

- Einer größeren Kraft, Macht oder Strömung ausgeliefert sein, weg- oder mitgerissen werden. Das ist bei vielen Traumatisierungen durch Naturgewalten eine zentrale Erfahrung. So kann eine strömende Menschenmenge auch erlebt werden wie eine Art Flüssigkeit. Bei der Tsunamikatastrophe wurden die Wasserfluten ähnlich massiv, mitreißend und unter die Oberfläche drückend erlebt, wie vielleicht die bewegte Menschenmasse im Tunnel in Duisburg. 

- Horror: der blanke Schrecken des erlebten und gesehenen. Untersuchungen nach dem Angriff auf das World Trade Center zeigen, dass Menschen sogar durch das wiederholte Sehen der Fernsehbilder Traumasymptome wie Schlafstörungen, wiederkehrende Bilder, Unruhe und Ängste entwickeln konnten. Erst recht, wenn man Dinge gesehen hat, die man als Mensch eigentlich nicht sehen sollte. Dazu die Wiederholung immer derselben Bilder und Filme in den Medien, vielleicht eine Art innerer Zwang, auf youtube die Filme wiederholt zu sehen, das schockiert über die Augen das Nervensystem tiefgreifend und anhaltend. Deshalb sollte die Konfrontation mit schwer verdaulichen und belastenden Bildern und Filmen, entgegen dem inneren Drang, vermieden werden. 

- Plötzlicher und unerwarteter Verlust eines nahestehenden Menschen. Laut Statistik sind bei jedem plötzlichen Todesfall, Unfälle oder Krankheiten, die nicht tödlich enden, nicht mitgerechnet, sechs Menschen in der Umgebung unmittelbar und intensiv mitbetroffen. Das heißt, durchschnittlich jeder dritte Mensch hat das in seinem Leben bereits einmal erlebt. Viele haben dieses Erlebnis nur weggesteckt, aber nicht verarbeitet. 

- Abhängig sein von Menschen, die ihrer Verantwortung nicht folgen und dadurch das eigene Leben, die eigene Gesundheit, die eigene Zukunft massiv  in Gefahr bringen, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Das haben viele Menschen auch mit ihren Eltern erlebt oder mit Lehrern, vielleicht aber auch bei Liebespartnern, oder mit Polizei und Behörden, das sind auch häufige Erfahrungen mit Hartz IV. Hier ist ein großer Vertrauensverlust zu befürchten, auch in die Gesellschaft als Ganzes oder die Mitmenschen als solche. 

Bei einer solch umfangreichen Liste ist es leicht möglich, dass eine ganze Reihe von Themen gleichzeitig angesprochen werden. Das wird dann häufig als eine Art Strudel oder Sog erlebt oder als ein Netz von Aktivierungen. Das macht den Umgang damit so schwierig. Ein einzelnes Gefühl lässt sich verstehen, ordnen und verarbeiten, aber viele Themen, die ineinander vermengt sind, bedürfen der ordnenden Hilfe von außen, brauchen das eins-nach-dem-anderen. Scheuen Sie sich nicht, die Form von Hilfe zu suchen, die sich für Sie passend und richtig anfühlt. Lehnen Sie Formen der Hilfe ab, bei denen Sie kein gutes Gefühl haben. Obwohl in vielen  Artikeln publiziert wird, dass Krisenintervention und Therapie zur Verfügung stehen, realistischerweise sind die Hilfsangebote allerdings begrenzt. Telefonseelsorger haben nur selten die speziellen traumatherapeutischen Kenntnisse, Psychiater bieten lediglich Medikamente an, die Kliniken sind voll und die Psychologischen Psychotherapeuten haben, über eventuell ein bis zwei Krisensitzungen hinaus, 1-2 Jahre Wartezeit und oft keine Erfahrung oder Ausbildung in Traumatherapie. Wer bei Psychologischen Psychotherapeuten auf den Anrufbeantworter spricht, bekommt häufig nicht einmal eine Antwort, weil es einfach zu viele Anfragen gibt.  Das Gesundheitssystem ist grade im Bereich der psychischen Gesundheit längst an seinen Grenzen angekommen, für viele Menschen ein nicht gutzumachendes Drama. Wer nicht selbst Therapie bezahlen kann, sieht sich schnell alleingelassen. Am wichtigsten bleibt daher für viele die Unterstützung von Familie und Freunden.

Geschädigte können ein Recht auf finanzielle Leistungen haben. Das kann Schmerzensgeld, Kosten für eine privat finanzierte Therapie, wenn eine kassenfinanzierte Therapie nicht möglich ist, Verdienstausfall und mehr umfassen. In der Zahlungspflicht steht zunächst die Haftpflichtversicherung des Veranstalters, wenn eine Schuld des Veranstalters festgestellt werden sollte, was möglicherweise erst gerichtlich geklärt werden wird. Allerdings beträgt die Absicherung des Veranstalters anscheinend lediglich 7,5 Millionen Euro - weniger, als die meisten Autofahrer in ihrer Haftpflicht abgesichert haben. Bei Feststellung einer Mitschuld der Stadt Duisburg auch die Stadt, die wiederum in einem Verband von 33 Städten ist, die das Risiko mittragen, außerdem gibt es verschiedene Unterstützungsinitiativen. Da jedoch die Durchsetzung solcher Ansprüche erfahrungsgemäß schwierig sein kann, wird empfohlen, sich frühzeitig zusammenzuschließen für Sammelklagen, Erfahrungsaustausch und mehr. Hier ein Artikel eines Versicherungsvermittlers

Unterstützung bietet die Telefonseelsorge an unter 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222


Links:

Augenzeugenbericht - der Schock sitzt tief
Massenpanikopfer brauchen intensiven Beistand 
Tagesschau-Interview: Trauma nach der Loveparade
Der Westen: Seelsorger helfen Zeugen   
Interview mit Sibylle Jatzko zu Folgen und Schuldgefühlen
Unterstützung durch die Psychotherapeutenkammer NRW 
Sensationslüsterne Bild-Berichterstattung und Presserat  

persönlich betroffen: Julias Loveparade-Blog

 

Letzte Bearbeitung dieser Seite: 05.08.2010

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