Schleudertrauma - Das unterschätzte Risiko

Es ist passiert. Vielleicht hat man den Unfallgegner noch auf sich zukommen sehen, oder gesehen, wie der Bremsweg immer kürzer wurde und dann doch nicht reichte, oder es kam völlig überraschend. Im ersten Moment weiß man gar nicht richtig was geschehen ist, schaut sich erst mal um, schaut, ob man verletzt ist und stellt im besten Falle fest: Nichts Schlimmes passiert, "nur" ein Blechschaden. Nach Abwicklung der Aufnahme des Unfalls durch die Polizei kommt man irgendwie nach Hause, leitet das nötige in die Wege, und der Rest ist Aufgabe der Werkstatt und der Versicherungen. Bei oberflächlicher Betrachtung, alles nicht so schlimm.

Jedoch: Wer nicht gelernter Rennfahrer oder Boxer ist, für den ist die Situation eines Unfalls, in den meisten Fällen mit dem Auto, zwangsläufig eine völlige Überforderung: im wenigen Bruchteilen von Sekunden wird der Aufprall erlebt, das Geräusch, die plötzliche Beschleunigung des Körpers, der schockartige Impuls, der sich durch den Körper bewegt, der oft doppelt oder dreifach hin- und hergeschleudert wird, so schnell, dass man es bewusst kaum registriert. Weder der Körper, noch die Psyche konnten sich so schnell auf das Geschehen einstellen.

Hinterher ist da vielleicht das Gefühl, wie neben sich zu stehen, nicht ganz da zu sein, noch im Schrecken, die Beine zittern, gleichzeitig kann eine merkwürdige Ruhe sein, als würde das einem anderen geschehen sein. Oder der Impuls, "nichts wie weg", einfach nur nach Hause, zum Partner, in Sicherheit wollen, seine Ruhe haben wollen. Vielleicht sind da leichte ziehende Schmerzen in Nacken und Schultern oder etwas Kopfweh, vielleicht ist man aggressiv und wütend.

Das sind einige der ganz normalen Reaktionen, die beinahe jeder kennt, der schon mal einen Auffahrunfall erlebt hat, und die unsere Biologie uns auferlegt. Zum Glück lassen die Reaktionen bei den meisten Betroffenen innerhalb einiger Tage bis Wochen mehr und mehr nach, bis sie praktisch verschwunden sind, und es möglich ist, ohne Anspannung, Wut oder Angst z.B. an der Unfallstelle wieder vorbeizufahren. Auch die körperlichen Nachwirkungen sollten dann komplett verschwunden sein.

Dennoch sollte in jedem Fall eine ausführliche ärztliche Diagnostik verlangt werden, weil eine gute Dokumentation für spätere Ansprüche beim Unfallgegner oder gegenüber eigenen Versicherungen entscheidend sein kann.

Bei 20-30% der Betroffenen aber geht die Unfallgeschichte weiter, und es können Symptome entstehen, die gar nicht mehr in Zusammenhang gesehen werden mit dem Unfall. Diese können, statt sich zu bessern, nicht nur fortbestehen, sondern sogar immer schlimmer werden. Und dies sogar dann, wenn der Aufprall nur ganz leicht war und die Geschwindigkeit nur gering.

Da staut sich nicht nur der Druck im Nacken und Spannungsempfindungen im Körper, da stauen sich auch innerlich Gefühle und Impulse, die nicht recht zur Ruhe kommen lassen, die vielleicht die Ruhe des Schlafs stören oder im Alltag die Gedanken ablenken. Es fällt schwer, wieder Auto zu fahren, oder die Unfallstelle wird vermieden, oder in "kritischen" Situationen verliert man Ruhe und Überblick.

Obwohl eine frühe Behandlung, also innerhalb der ersten Woche, die beste Prognose für schnelle und vollständige Wiederherstellung hat, spätestens beim Andauern der Symptome über die die ersten Wochen hinaus und bei Verschlimmerung sollte eine spezifische Behandlung aufgesucht werden, um eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verhindern und nach Möglichkeit wieder zur vollkommenen Genesung zu kommen. Leider fehlt den allermeisten Ärzten, Orthopäden und auch Psychotherapeuten das Verständnis für diese Folgen eines Unfalls, und so wird der Verschleppung Vorschub geleistet oder eine Behandlung vorgeschlagen, welche die Probleme sogar noch verschlimmern kann.

Mögliche Symptome umfassen Schlafstörungen, Sprach- und Konzentrationsstörungen, schnelle Ermüdbarkeit, Schmerzen unterschiedlicher Art die in jedem Bereich des Körpers auftreten können, Ängste, Wutanfälle, Reizbarkeit, innere Unruhe, körperliche Koordinationsstörungen.

Die Unfallfolgen hängen außer von der Aufprallgeschwindigkeit und -richtung auch ab von z.B. Kopf- und Körperhaltung im Augenblick des Unfalls, psychischer Belastung, Stress und Anspannung oder auch besonderer Entspannung am Unfalltag, der allgemeinen Konstitution und dem inneren Umgang mit Problemen und Belastungen. Ein früherer Unfall oder Schock kann eine Sensibilisierung hinterlassen, die zu einer besonders starken Reaktion führen kann. All dies ist höchst individuell und daher nicht allein am Unfallhergang festzumachen, wie es die Versicherungen in der Regel versuchen.

Ein solches Schleudertrauma kann sich auch einstellen nach anderen plötzlichen Krafteinwirkungen: Das Kind, das überraschend von hinten mit einem Ruck an den Haaren der Erzieherin rupft, der verirrte Fußball im Park, der einem Passanten an den Kopf fliegt, eine Prügelei, in die man vielleicht unfreiwillig hineingezogen wurde.

Oder ein Sturz auf glattem Eis, ein Stolpern über eine Schwelle, ein Schlag oder der Aufprall bei einem Ohnmachtsanfall verursacht ein Schädel-Hirn-Trauma, was ähnliche - oder schlimmere - Folgen haben kann, die im ersten Augenblick nicht erkannt werden. 

Zu den Symptomen, die für Trauma allgemein typisch sind, kommen die körperlichen Folgen. Bei Schleudertrauma werden weiche Strukturen im Gehirn geschädigt, was Ursache der Konzentrations- und Sprachstörungen ist. Auch Schwierigkeiten gezielt zu greifen entstehen vermutlich durch Weichteilschäden in den Ligamenten der Halswirbelsäule. Diese werden durch Röntgenaufnahmen nicht erfasst, daher sind die gewöhnlichen Untersuchungen zur Darstellung der tatsächlichen Schäden nicht geeignet oder ausreichend. Teure Spezialuntersuchungen werden jedoch so gut wie nie gemacht. Außerdem sind die weiteren Unfallfolgen auch für den Verlauf der Belastungsstörung entscheidend. Die Belastungsstörung wieder kann durch chronische Aktivierung des Körpers eine Heilung anderer Beschwerden erschweren oder verhindern. 

Eine Verletzung wird unbewusst immer auch nach den Folgen bewertet. Während blaue Flecken rasch abheilen, kann die Grenzverletzung, ohne dass der Körper physisch besonders betroffen ist, viel nachhaltiger empfunden werden, mit der möglichen Folge einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen und schneller Ermüdung und Überforderung durch Geräusche und andere Sinneseindrücke. Wenn körperliche Verletzungen auftreten, die dauerhaft Konsequenzen haben, vielleicht zur Berufsunfähigkeit führen. so ist auch die Reaktion auf die Verletzung eine viel stärkere. Eine wesentliche Frage ist auch die der Schuld, sowohl objektiv, als auch im subjektiven Gefühl. Schuldgefühle erschweren den Heilungsprozess ähnlich wie Bitterkeit, etwa wenn der Unfallverursacher nicht bestraft wird, eine falsche oder ungenügende oder uneinfühlsame ärztliche Behandlung erfolgt, die Beschwerden durch andere, besonders durch Institutionen, die Leistungsträger sind, abgewertet und bagatellisiert sind. Eine große Kränkung ist auch die Neigung nicht betroffener Menschen, die äußerlich nicht sichtbaren Folgen traumatischer Ereignisse als übertrieben, Anstellerei oder sogar als Simulantentum abzuwehren, meist aus schlichter Unwissenheit und Mangel an Verständnis, manchmal auch zur Abwehr der eigenen Überforderung mit dem Thema. 

Wenn im Unfallgeschehen ein Mensch schwer verletzt wurde, etwa eine Querschnittslähmung erleidet, oder zu Tode kommt, so ist diese Belastung zusätzlich zu den persönlichen Folgen eine große Erschwernis, weil die Auseinandersetzung mit dem Tod oder Trauerarbeit inmitten der inneren Mischung von Übererregung, Empfindungslosigkeit und Unruhe kaum möglich ist. Wesentlich sind auch Kopplungen des Unfalls mit vorherigen traumatischen Ereignissen unterschiedlicher Art. Sie können ein für Laien nicht mehr entwirrbares Chaos in Gefühlen, Erleben und Verhalten auslösen, das eine schwierige Abwärtsspirale in Gang setzen kann. Hier braucht es kundige Unterstützung von außen. Solche komplexen Belastungen sind behandelbar, brauchen aber viel Zeit, um schrittweise die einzelnen Aspekte voneinander zu trennen und zu bearbeiten.  

Wenn sich dagegen Verbündete finden, die dem Opfer glauben und sich ohne Bedingungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Verfügung stellen, ist das unglaublich hilfreich und oft ein zentraler Baustein im Heilungsprozess. So kommt zum körperlichen Trauma mit seinen schwer erträglichen Folgen nicht noch das soziale Trauma, ausgeschlossen und unverstanden alleine da zu stehen. Auch das Opfer selbst sollte aber viel Verständnis für seine eigene Situation aufbringen und mit Geduld und Beharrlichkeit an seiner Lage arbeiten. Ehrgeiz und die verbreitete Gewohnheit, sich selbst unter Druck zu setzen, sind bei den Folgen von Trauma, speziell auch neurologischem Trauma, Gift, und kann die Symptome noch weiter verschlimmern und chronifizieren. 

Zwei leider noch wenig bekannte Methoden haben sich besonders bewährt, um diese Störungen zu bearbeiten: die körperorientierte Traumabehandlung nach Peter Levine (Somatic Experiencing) sowie die Craniosakraltherapie bzw. sanfte Osteopathie zur körperlichen Behandlung. In vielen Fällen kann es notwendig sein, beide Verfahren miteinander zu kombinieren. Frühzeitig angewendet, und wenn keine größeren Verletzungen vorliegen, können bereits wenige Sitzungen genügen, eine starke Verbesserung zu ermöglichen und so den Weg in Richtung Heilung zu bahnen.

 

weitere Informationen: http://www.andreamo.de/HWS-Trauma/Schleudertrauma_Main.htm

 

Buchempfehlungen (s. auch die Buchbesprechungen):

Huonker-Jenny, Renata: Schleudertrauma. Das unterschätzte Risiko. Kösel 2002 , ISBN 3-466-30593-4

Scaer, Robert C.: The Body bears the burden. Trauma, Dissociation, and disease. The Haworth Press, Inc., 2001, ISBN 0-7890-1245-6

Levine, Peter: Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet. Kösel 2011, ISBN 3466309182

Levine, Peter A. u. Ann Frederick: Trauma-Heilung. Synthesis 1998, ISBN 3922026915

 

 

Letzte Bearbeitung dieser Seite: 21.07.2011

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