Strukturelle Dissoziation

Dieser Ansatz geht zurück auf Pierre Janet und wurde in heutigen Tagen von einer niederländischen Arbeitsgruppe (Ellert Nijenhuis, Onno van der Haart und Kathy Steele) aufgegriffen, wissenschaftlich untersucht und erweitert. Mit dem Zusatz "Strukturell" setzen sie sich vom verwirrenden und widersprüchlichen Gebrauch des Begriffs "Dissoziation" ab, wie er heute in der Fachwelt noch gebräuchlich ist. Ausführlich niedergelegt ist das Modell in dem Buch: "Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung", Junfermann 2008, ISBN 978-3-87387-671-2
Inzwischen wird dieser Ansatz zunehmend als ein übergreifendes Modell chronischer Traumatisierung betrachtet, das viele Phänomene greifbar macht, die bisher nur ungenügend beschrieben und verstanden werden konnten. 

Die zentrale Erkenntnis liegt darin, dass psychische Traumatisierung eine grundlegende Veränderung in der Psyche verursacht, die seelische Spaltung. Das charakteristische am Trauma ist, dass Ereignisse und ihre Umstände so überwältigend sind, dass sie innerlich nicht integriert werden können. So entsteht in der Psyche ein unerträglicher Zustand von Übererregung. Unsere Biologie löst daraufhin eine Notfallreaktion aus, die dem Selbstschutz dient. Diese liegt außerhalb des willentlichen Einflusses. Die Psyche spaltet sich in einen "vernünftigen" Teil, der in der Lage ist, weiterhin auf die Anforderungen und Gegebenheiten der Umwelt zu reagieren, und einen oder mehrere Teile, der oder das Trauma tragen und in den "Hintergrund" der Psyche abgedrängt werden. Das heißt, der uns bewusste Teil, gewöhnlich der, mit dem wir uns identifizieren, bemüht sich so gut es geht weiter das Leben zu leben, während der abgespaltene Teil die Körperreaktionen, Emotionen und psychischen Erregungen trägt, die vom Trauma übriggeblieben sind.  Diese dauern unbehandelt lebenslang praktisch unverändert an und drängen immer wieder in das Wachbewusstsein hoch, besonders wenn irgend etwas in der Gegenwart an die traumatischen Szenen erinnert: ein Geruch, Geräusch, Fernsehbericht, Verhalten eines Menschen, das wir beobachten, usw. Der bewusste Teil versucht dann, zusätzlich zur unwillkürlichen Abspaltung (Dissoziation), die auftauchenden Symptome, Gefühle und Zustände wieder zu verdrängen oder unterdrücken. Wir lernen, Situationen und Umstände zu meiden, die befürchten lassen, dass die Gefühle von Angst, Terror, Schrecken, Erstarrung oder Wut hochkommen. Außerdem entwickeln wir Strategien, um die Erregung wieder zu senken, wie Sport, Arbeitssucht, Kaufsucht, Gebrauch von Drogen, besonders Haschisch und Alkohol und all die anderen Möglichkeiten, die Energie wieder abzubauen und die hochkommenden Gefühle wieder zu unterdrücken.

Es gibt also zwei verschiedene Mechanismen, welche die innere Spaltung aufrechterhalten: 
- die unwillkürliche Dissoziation, die biologisch einspringt ähnlich einer Sicherung in der Elektrik
- die Angst, die der "normale" Teil von uns gegenüber den abgespaltenen Gefühlen entwickelt und die zu Vermeidung und Unterdrückung führt
Viele Traumafolgen erklären sich aus diesem Kampf der inneren Teile miteinander, der aber normalerweise so nicht bewusst wird. 

Bei wiederholten und frühen Traumatisierungen kommt es auch wiederholt zu solchen Spaltungsprozessen, so dass es unterschiedliche abgespaltene und unbewusste Teile gibt, die jeweils um unterschiedliche "Themen" und Affektzustände kreisen. So lässt sich ein Spektrum erstellen: 

In der einfachen posttraumatischen Belastungsstörung kommt es zur Spaltung in eine "normale" Seite, die weiter mit dem Leben umgeht und das Leben führt und gestaltet, und einem Teil, der die Belastung des Traumas lebt. 
Bei der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung gibt es ebenfalls die "normale" Seite, die das Leben weiterführt, und mehrere abgespaltene Teile im Hintergrund, das normale Leben kann  also von unterschiedlichen Seiten her immer wieder "attackiert" oder destabilisiert werden. 
Bei frühen Störungen oder der trauma-basierten Borderlinestörung ist die Ausprägung dieser verschiedenen Seiten oft sehr stark, diagnostisch spricht man meist von DDNOS (Dissoziative Störung, nicht anderweitig spezifiziert). 
Bei noch stärkerer Ausprägung der Traumatisierung entstehen nicht nur mehrere trauma-belastete Teile, sondern auch mehrere "Normal"-Zustände, die nebeneinander bestehen und sehr unterschiedlich sein können. Früher wurde dieser Zustand Multiple Persönlichkeitsstörung genannt, heute spricht man von Dissoziativer Identitätsstörung. Inzwischen ist der neurophysiologische Beweis erbracht, dass diese Störung nicht durch Therapie induziert ist, sondern tatsächlich existiert. Hier ein Link zur Geschichte der lange umstrittenen, heute aber naturwissenschaftlich gesicherten Diagnose "Multiple Persönlichkeitsstörung" bzw. Dissoziative Identitätsstörung: 
Die Multiple Persönlichkeitsstörung im Zerr-Spiegel des Feuilletons (Ulla Fröhling) 

Im neurophysiologischen Untersuchungen hat man inzwischen festgestellt, dass zu jedem Zustand eigene neuronale Netzwerke gehören, die aktiv sind. Zwischen diesen kommt es zu Sprüngen oder "Umschaltungen", die nicht gleitend ineinander übergehen können und nicht gleichzeitig aktiv sind, es fehlt also an Integration. An den sogenannten "normalen" Zuständen sind vor allem die "vernünftigen" Teile des Gehirns beteiligt, während die Zentren der abgespaltenen Teile im Bereich des emotionalen Gehirns liegen. Die niederländische Arbeitsgruppe spricht daher von "Anscheinend normalen Persönlichkeitsteilen" oder kurz ANP, die insofern nicht "normal" sind, dass sie nicht die Gesamtperson mit all ihren Seiten umfasst, sondern sozusagen vermindert ist um die emotionalen Kompetenzen, und den Emotionalen Persönlichkeitsteilen, kurz EP, die in der Regel starke Gefühle, intensive Impulse und ungewöhnliche Körperzustände beinhalten, wie Zuckungen, Lähmungen oder Schmerzen. Die Emotionalen Persönlichkeitsteile können dabei extrem einfach sein und lediglich einen Impuls oder ein Gefühl beinhalten, sie können aber auch so komplex werden, dass sie Eigenschaften einer eigenen Persönlichkeit entwickeln: ein Identitätsgefühl, eigene Werte, Ziele und Anschauungen. Kein Teil ist dabei mehr "Ich" als die anderen, obwohl Betroffene sich gewöhnlich mit der Alltagsperson identifizieren, alle Teile sind unterschiedlich umfangreiche Fragmente dessen, was der Mensch ursprünglich in seiner Ganzheit war. Nijenhuis und Kollegen nehmen an, dass im Zentrum jedes EPs ein sogenanntes Handlungssystem steckt, also ein biologisch angelegtes Überlebensthema. So gibt es biologisch angelegt das Thema "Nahrungssuche", "Kampf und Abgrenzung", "Unterwerfung und Erstarrung" und das "Bindungssystem" und "Spiel und Neugier".

Onno van der Hart, Website

Ellert Nijenhuis, Website

Kathy Steele, Kurz-Biographie  

 

Letzte Bearbeitung dieser Seite: 28.10.2011
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