Babys im Big-Brother-Haus: Überwacht von Kameras und Fachleuten üben in der neuen RTL-Doku-Soap "Erwachsen auf Probe" Teenager den Umgang mit Kleinkindern - anhand echter Säuglinge im Alter von 7-14 Monaten. 

Die Ausstrahlung von 7 Folgen erfolgte ab dem 3. Juni und löste zahlreiche Proteste von Interessenverbänden, Kinderschützern und Psychotherapeuten aus. So wurde  z.B. die 9 Monate alte Theresa vom 18jährigen Mario „betreut“, der schon mehrfach wegen Raub, Diebstahl und Körperverletzung angeklagt war und zum Abbau von Aggressionen gern in die Boxhalle geht, unter Mithilfe seiner 17jährigen Freundin. Vorbild ist die britische BBC-Sendung „Baby-Borrowers“, die ebenfalls große Proteste hervorgerufen hat. 

Das entscheidende dabei ist nicht so sehr die Frage, ob die Jugendlichen geeignet sind für die Betreuung von Kleinstkindern. Das sind sie naturgemäß nicht und auf dieser Spannung beruht ja auch die Sendung als solche. Das die Kinder also aus dem gewohnten Rahmen herausgerissen einer unpassenden, ungewohnten, unbekannten und unberechenbaren Behandlung ausgesetzt sind, sowie massiven Übergriffen in ihren Körper- und Seelenraum durch fremde Menschen, ist selbstverständlich. Schlimmer aber ist die Trennung von der mütterlichen Betreuung als solcher. 

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, was das für Babys bedeutet: Die festen Bezugspersonen, also vor allem die Mutter, sind der Hafen der Sicherheit in der Welt, den sie zum Überleben brauchen. Den Bezug zu verlieren zu den Fürsorgern und der sicheren Versorgung durch sie löst bei Kleinkindern etwa dasselbe Gefühl aus, wie ein Aussetzen in der Wildnis. Nämlich Panik. Hier werden Kinder also willkürlich der Hölle der Angst ausgesetzt. Nicht etwa nur eine Stunde, wo ja, wer das vielleicht noch ein bisschen aus seiner Kindheit weiß, in Freude und Angst schon 5 Minuten eine unüberschaubare Ewigkeit sein können. Sondern Tage. Kleine Kinder haben keinerlei Werkzeug, um sich Zeitspannen dieses Ausmaßes vorstellen zu können oder sie überbrücken zu können. Sie können auch nichts aktiv tun um die Situation zu ändern. In Situationen der Unsicherheit kann auch das Schreien, die übliche Äußerung von Unmut und Not, blockiert sein, um nicht die Aufmerksamkeit von Bedrohern auf sich zu ziehen. Je nach Widerstandkraft und Umständen werden die Kinder entweder erst mit Übererregung reagieren und dann mit innerem Abschalten, oder direkt mit psychischem und körperlichem Abschalten, der Erstarrungsreaktion, wie wir sie vom Schock kennen. Während man früher noch dachte, dass Kinder vergessen, was sie nicht bewusst erinnern, so dass man sogar Operationen ohne Narkose vorgenommen hat, weiß man heute von anderen Gedächtnissystemen, besonders dem impliziten Gedächtnis, auch Körpergedächtnis genannt. Hier werden diese frühen Erfahrungen abgespeichert und den Standardprozeduren hinzugefügt. So kann auch eine - für Erwachsene - relativ kurze Trennung dazu führen, dass im Kind Spuren abgelegt werden, die lebenslang zur Auslösung von Angstattacken, Übererregung oder Abschaltung führen können, wenn es zu Trennungssituationen kommt oder wenn die Fremde ausgehalten werden muss. Die Alarmzentrale des Gehirns, die Amygdala, schaltet dabei die Korrekturmöglichkeiten der Vernunft aus und sorgt dafür, dass der Körper mit Stresshormonen überschüttet wird. Was die Psychotherapie schon lange kennt, ist nun auch von Hirnforschern bestätigt und erklärt worden. 

Wenn von RTL auf medizinisch-psychologische Betreuung hingewiesen wird, so ändert das nichts daran, dass die Kinder in ihrem Erleben in der Fremde sind, alleingelassen, von den Eltern verloren oder verstoßen. Ganze vier Tage, das heißt unter anderem drei Nächte. Nach entwicklungspsychologischen Erkenntnissen muss man davon ausgehen, dass Kinder nach vier Tagen in der Fremde eine seelische und neurologische Spur dieser Hölle in sich tragen, dass sie also traumatisiert sind, und Traumata werden niemals vergessen. Die Eltern sollen die Kinder über Kameras rund um die Uhr beobachten können. Das wird die Eltern vielleicht beruhigen, die Kinder haben nichts davon, in ihrer Erfahrungswelt gibt es keine Eltern mehr für diese Zeit. Auch die Anwesenheit von Fachpersonal hilft nicht, da sie nicht direkt Kontakt mit dem Kind haben und im übrigen für die Kinder genauso unbekannte Personen wären wie alle anderen auch. Oder soll die Psychologin sich ein Schild umhängen, „Ich bin Kinderpsychologin, und bei mir bist du sicher“? Moderatorin der Sendung wird Katja Kessler sein, Ehefrau von Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann, die früher die Busenbilder auf Seite 1 der Bild mit frivolen Texten versehen und Bücher mit Dieter Bohlen herausgebracht hat, also eine qualifizierte Wahl für eine solche Sendung. 

In einer Umfrage vom Stern.de haben immerhin 76% genannt, die Kinder würden Schaden nehmen und die Sendung sollte verboten werden. 15% geben an, sowieso kein Fernsehen zu sehen (vermutlich auf dergleichen Formate bezogen) und nur 8% vermuten einen lehrreichen Effekt (582 Teilnehmer, Stand 18. Mai 09). Aber in der Bevölkerung gibt es sicher viele Stimmen wie die von Stephan Beuting beim Deutschlandfunk, der sich wie folgt äußert: "Anzeichen von Traumata und Depressionen zeigen die Kinder nach Auskunft der Eltern bislang nicht. (...) Babys (...) lernen schnell, dass Schreien anstrengend ist und sie ihre Kräfte einteilen müssen und ihre Alarmtöne am Besten dosiert einsetzen, vor allem dort, wo es sich lohnt." (Artikel vom Deutschlandfunk)
Solcherlei Fühllosigkeit und Uninformiertheit ist sicher nicht ungewöhnlich. Es wird mitbestimmt von der naiven Vorstellung, eine solche Verletzung der kindlichen Seele müsse man doch sehen. Aber so sind seelische Wunden nicht. Das Wissen um kindliche Bedürfnisse musste sich früher auf das Bauchgefühl von Müttern und mitfühlenden Menschen berufen. Heute sieht das anders aus, die Proteste lassen sich handfest wissenschaftlich untermauern. Hier einige Expertenäußerungen:  

Der Bindungsexperte Karl-Heinz Brisch äußert sich entsetzt und stellt die Frage, welche Qualität der Bindung die Eltern dieser Kinder haben muss, dass sie Experimente an ihren eigenen Kindern zulassen, bei denen auf Kosten der seelischen Gesundheit von Babys Geld gemacht wird. Bei vier Tagen Trennung drohe eine posttraumatische Belastungsstörung. Der Kinderschutzbund zeigt sich entsetzt: "Diese Sendung setzt die Kinder einem hohen Risiko aus, ist somit Kindeswohlgefährdung und nicht hinnehmbar", so die Kinderschutzbund-Bundesgeschäftsführerin Paula Honkanen-Schoberth. "Indem RTL die Kinder existentiellen Ängsten aussetzt, nimmt der Sender Bindungsstörungen in Kauf." "Ein entsetzliches Experiment", sagt Michael Scheele, Chefarzt für Geburtshilfe und Neonatologie in Hamburg. "Die Kinder werden Stress ausgesetzt, Puls und Blutdruck steigen, Alarmhormone werden ausgeschüttet." Bindungsforscher kennen die Panikreaktion von Kindern, denen die Bezugsperson genommen wird. Auch die Bundespsychotherapeutenkammer bennent die Gefahr der Traumatisierung und fordert Mediengesetze, die Kinder vor solchen Experimenten schützen: "Babys brauchen ihre Eltern - jeden Tag", stellte Peter Lehndorfer, Vorstand der BPtK, in Berlin fest. Die Fähigkeit, sich zu binden, entwickelt der Mensch im frühesten Kindesalter. "Ein Baby braucht seine Eltern tagtäglich wie seine Nahrung." Eine zu lange Trennung kann für ein kleines Kind schnell zu einem traumatischen Erlebnis werden. Das Kind erlebt die Trennung als absoluten, endgültigen Verlust der Eltern. "Eine Trennung von der wichtigsten Bezugsperson kann Kinder seelisch überfordern und langfristig schwere psychische Störungen verursachen." Die Marburger Professorin für Verhaltensbiologie Katharina Braun schreibt: „Gerade unsere tierexperimentellen Studien zu den neuronalen Veränderungen im Gehirn von Jungtieren nach Trennungsstress zeigen in erschreckend klarer Weise, dass  bereits  eine Stunde Trennungsstress am Tag ausreicht, um messbare und teilweise IRREVERSIBLE Veränderungen in den Emotionszentren des Gehirns auszulösen! Dies passt hervorragend zu den Befunden der Bindungsforschung.“ Die international renommierte Trauma-Expertin Michaela Huber: „Wenn Erwachsene sich unwürdigen Experimenten à la Dschungelcamp aussetzen, ist das scheußlich und geschmacklos, aber ihre Wahl. Wenn Kleinstkinder von ihren Eltern getrennt und Versuchen à la „Baby to go“ ausgesetzt werden, ist das ein Verbrechen. Bitter genug: Die Säuglinge können sich noch nicht wehren, also müssen wir es für sie tun, wenn schon ihre Eltern offenbar nicht willens und in der Lage sind, sie vor solchen schädlichen Erfahrungen zu beschützen. Lutz Besser schreibt u.a.: "Ich protestiere ebenfalls auf das Schärfste gegen diese mediale Form des „Kindesmissbrauchs“. Jetzt vergreift man sich real und medial an den schwächsten und kleinsten Wesen, den schutzbedürftigen Babys und Kleinstkindern." 

Zwar habe Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft Joachim von Gottberg bei manchen Fragen zu dieser Sendung ein ungutes Gefühl beschlichen, aber er habe eine pädagogische Absicht darin erkannt. Laut RTL soll den Heranwachsenden mit eigenem Kinderwunsch vor Augen geführt werden, was es bedeute, Verantwortung für ein Kind zu tragen. RTL-„Expertin“ Kessler will den Heranwachsenden Tipps wie diesen geben: "Hey guck mal, das ist ein lebendiges Wesen und mit ,Patschi-Patschi'-Streicheln über den Kopf ist es nicht getan". Wenn Dieter Czaja als Jugendschutzbeauftragter von RTL in einer Email-Antwort die Kritik "beschämend" nennt  und weiter schreibt: "Sie können sicher sein, dass all die lancierten " Greuelgeschichten " falsch sind oder tendenziös dargestellt werden. Natürlich stand Wohlbefinden und Sicherheit der Kinder für uns an erster Stelle. Bei der Produktion standen den Kindern mehr erfahrene Betreuer zur Seite, als in jeder Kindertagesstätte", dann zeigt das die Dickfelligkeit und Dreistigkeit von RTL. 

Einerseits geht es hier darum, dem Privatfernsehen entgegen einer menschenverachtenden Kultur Grenzen zu setzen, Zeichen zu setzen für eine Kultur, in der Menschen einen Wert besitzen. Jedoch sollte die gezielte Aufregung gegen RTL nicht vergessen lassen, dass dies nur ein Zeichen für viele ist, wie in unserer Gesellschaft - und auch anderen - mit Menschen im allgemeinen und Kindern im besonderen umgegangen wird. So sollte dies zum Anlass genommen werden, diese Sendung zu nutzen, wie RTL es für sich in Anspruch zu nehmen versucht: in der Öffentlichkeit die Bedürfnisse von Kindern bewusst zu machen, die neueren - und eindeutigen - Erkenntnisse der Hirn- und Bindungsforschung bekannt zu machen und Veränderungen in Gesellschaft und Gesetzgebung zu verlangen. Das geht in den Konsequenzen weit über RTL hinaus und reicht bis hin zur mageren personellen Ausstattung der Kindertagesstätten - da ist kein Fernsehsender, sondern der Staat gefragt, sich nicht nur mit Konzepten zu brüsten, sondern auch die Voraussetzungen zu schaffen, sie umzusetzen. Und das betrifft die ganze Gesellschaft. Hierzu beispielgebend ein Artikel der Psychotherapeutenkammer: 

http://www.bundespsychotherapeutenkammer.org/show/2444272.html

Beim Kölner Stadtanzeiger Online äußert sich ein gewisser Meikel so zur RTL-Sendung: 

Aufregung? Bleibt doch alles in einer einheitlichen asozialen Schicht:
- Die Leute, die ihre Kinder für sowas hergeben
- Die Pärchen, die die Kinder übernehmen
- und last but not least, der geneigte RTL-Zuschauer

Damit sollten wir uns nicht zufrieden geben. Die Schäden seelischer Gesundheit bleiben nicht isoliert in einer „Schicht“ (von Untermenschen?), sondern betreffen die gesamte Gesellschaft. Auch wenn die Absetzung der Sendung an der Dickfelligkeit und Abwehr verschiedener Gerichte und Institutionen scheiterte (Bericht von Familie-ist-Zukunft), so haben die umfangreichen Proteste doch Wirkungen gezeigt. Das Thema wurde für eine Zeitlang Bestandteil öffentlicher Diskussion, sogar von Straßengesprächen, verschiedene Gerichtsverfahren sind angestoßen, es wird auch über Gesetzesänderungen nachgedacht, denn z.B. die Kommission für Jugendmedienschutz nannte die ersten Folgen "rechtlich zulässig, aber ethisch und pädagogisch unverantwortlich". Über 60 Organisationen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam in eine Richtung zu wirken. Und RTL hat Schaden genommen: nicht nur am Image, sondern auch am Geldbeutel, dem "kalten Herz" des Privatfernsehens. Unter dem Druck der Öffentlichkeit haben folgende Firmen ihre Werbung im Umfeld der Sendereihe, einige sogar ihre gesamte RTL-Werbung, storniert: Lidl, Storck, AXA, Söhnlein Brilliant, KIK-Textilien, Katjes, DocMorris, Tschibo, Ikea, Obi, Bertelsmann, Nintendo und Müllermilch. Infolgedessen wurde sogar die Sendezeit verkürzt. 
Als unsensibel bis zum Schluss, entgegen allen Protesten, erwiesen sich dagegen Punica/Pepsico und ausgerechnet die sich sonst familienfreundlich darstellende Langnese von Unilever-Konzern. Dies könnte bei zukünftigen Kaufentscheidungen berücksichtigt werden. Jedoch muss der Einbruch der Werbeeinnahmen - zusammen mit schwächelnden Zuschauerquoten - RTL schon sehr geschmerzt haben. Und obwohl Anastacia sich gern für eine zweite Staffel von Erwachsen auf Probe bewerben möchte (als schwierige Jugendliche? Oder als Kleinstkind?),  zeigen verschiedene Reaktionen des Senders, dass mit einer zweiten Staffel wohl nicht zu rechnen ist.

Übrigens gibt es auch Übungsmöglichkeiten, ohne Kinder zu gefährden. Inzwischen sind Puppen entwickelt worden, die in ihrem Verhalten echten Kindern ähnlich genug sind, um Jugendlichen einen realistischen Eindruck zu vermitteln, wie in diesem Bericht geschildert: 
http://www.epd.de/hessen/hessen_index_67188.html

 

 

Links: 

Kommentare von Experten und Verbänden

Download Protestmail von Michaela Huber an RTL (eml)

Spiegel Online vom 6.5.09

Kommentar Bundespsychotherapeutenkammer (PDF)

Süddeutsche.de vom 12.5.09

Focus online vom 14.5.09

Stern.de vom 14.5.09

Tagesspiegel.de vom 15.5.09

Domradio vom 17.5.09

Interview mit Karl-Heinz-Brisch vom 25.5.09

Angesichts der Proteste lud RTL kurzfristig zu einer Infoveranstaltung. Hier der Bericht: 
Familie ist Zukunft - Bericht

 

Falls Sie RTL gern auch im nachhinein die Meinung sagen möchten:  

RTL interactive GmbH 
Geschäftsführung: Marc Schröder 
Am Coloneum 1
50829 Köln 
Telefon: 0221-780 0
Fax: 0221-780 40 89

Online-Kontaktformular: http://www.rtl.de/kontakt.php?Bereich=RTL-Fernsehprogramm 

(letzter Auswahlpunkt: „zu sonstigen Themen“)

Und auch die RTL-Jugendbeauftragten freuen sich sicher über Anregungen und Hinweise: 
daniela.hansjosten@rtl.de 

Dieter.Czaja@rtl.de

 

 

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 www.traumatherapie-ruhr.de